In Graz sind die Geschichtswerkstätten in den Bezirken für die lokale Bevölkerung Jahrzehnte her, wobei es in den Bezirken Gösting und Andritz noch nie eine gab. Dabei erscheinen gerade diese früheren Vororte, die erst 1938 zum Grazer Stadtgebiet kamen, besonders interessant, hat sich hier doch in den vergangenen Jahrzehnten enorm viel verändert.
Das CLIO-Team plant daher für das Kulturjahr größere Treffen vor Ort, die man gemeinsam mit den jeweiligen Bezirksvorständen kommuniziert. Die „Akquise“ von Bewohner*innen funktioniert insbesondere in Gösting sehr gut, sagt Joachim Hainzl von CLIO. Der Termin für das erste Treffen fällt allerdings mit dem Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 zusammen. „Da unsere Hauptzielgruppe zugleich wohl die am meisten vulnerable ist, haben wir das Programm komplett umstellen müssen. Wir hatten Presseartikel und eine Menge Nachfragen, aber dann mussten wir pausieren.“
Im Oktober gelingt ein Neustart in Gösting. Der Grazer Historiker Karl A. Kubinzky hält einen Vortrag und zeigt Exponate aus seiner Sammlung. Mit dem lokalen E-Werk ist man eine Kooperation eingegangen, das Interesse ist dadurch weiter gewachsen. Doch dann folgt der nächste Lockdown und das CLIO-Team muss abermals umplanen. Statt gemeinsamer Treffen finden nun Einzelinterviews statt.
In den Gesprächen geht es um einschneidende Veränderungen, wobei Erinnerungen aus der Kindheit und der Jugend dominieren. So kann man die Jahre zwischen 1930 und 1960 besonders gut dokumentieren. Der Verkehr, das Einkaufen, die Schule, am Rande auch die Arbeitswelt und die im Laufe der Zeit verbauten Flächen kommen zur Sprache. „Für mich war es sehr spannend zu erkennen“, meint Joachim Hainzl, „wie wenig urban diese Bezirke früher waren. Die Kinder spielten auf der Straße, es gab kaum Autos. Die Straßenbahn nach Gösting war für viele eine starke Erinnerung, genauso wie der dortige Bahnhof.“ Auch Gewerbe und Industrie sind für beide Bezirke prägend, ob die Glasfabrik am Rande von Gösting oder die Maschinenfabrik Andritz und die Papierfabrik Arland. Nicht wenige trauern dieser Historie nach, genauso wie das Verschwinden der Greißlereien im Zuge der sich ausbreitenden Supermärkte beklagt wird.
Als es noch Schnee gab
Aus den Transkriptionen der Interviews und aus Fachbeiträgen werden zwei Publikationen für die Bezirke und eine Website (www.grazergeschichten.net). „Der Vorteil der Einzelinterviews“, meint Joachim Hainzl, „ist es, dass die Personen besser zur Geltung kommen. Nachteile der Interviews: Der Aspekt der Begegnungen vor Ort fehlt und man hat nicht das referenzielle Element im Gespräch. Diese Funktion habe ich übernommen, indem ich Querverweise zu anderen Interviews hergestellt habe.“
Die Befragten trauern übrigens nicht per se einer „guten alten Zeit“ nach, sie machen aber darauf aufmerksam, wie der Verkehrslärm sich gesteigert hat und wie sich die Temperaturen in der Stadt geändert haben. „Damals als es noch Schnee gegeben hat …“ sei ein häufiges Statement gewesen, erzählt Joachim Hainzl. Er selbst wünscht sich im Zusammenhang mit den Transformationen in der Stadt, dass nicht nur Zeugnisse herrschaftlicher Architektur erhalten bleiben, sondern auch Bauten, die den Vorstadtcharakter und die Geschichte der Arbeiter*innen in den Bezirken zeigen.
Bestärkt durch die Erfahrungen in Gösting und Andritz ist das CLIO-Team rund um Heimo Halbrainer sehr motiviert, weitere Bezirke zu erforschen, die spät zum Stadtgebiet hinzukamen. Wenn man noch Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs inkludieren will, sollte man nicht mehr lange damit warten.