Das Gebiet rund um die Grünanger-Siedlung in Liebenau ist ein ungemein facettenreicher Ort. Hier stand einst ein Lager, in dem Zwangsarbeiter*innen in der NS-Zeit interniert wurden. Wie viele Menschen damals erschossen wurden, weiß man nicht. Wenige Meter davon entfernt treffen sich heute Kinder und Jugendliche zum Skaten. Wieder ein paar Meter muraufwärts steht das neue Kraftwerk, das massiv in die Gegend eingegriffen hat. Etliche Wohnbauten rund um die Seifenfabrik sind entstanden. Die alten Holzhäuser am Grünanger sollen ersetzt werden, wenn es nach den Plänen der Stadt geht.
Das alles spielt im Audio-Walk „Flussabwärts“ von Flora Schausberger und Jan Zischka eine Rolle. Aber nicht ausschließlich. Ein Audio-Walk ist keine Stadtführung, sondern eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Ort, mit Sinneseindrücken, mit Gedanken. Wer sich die Tonspur herunterlädt, was zumindest bis Oktober 2022 möglich sein sollte, hört einen inneren Monolog neben dokumentarischen Fakten, Verweise auf Objekte und Begegnungen. Es ist der erste Audio-Walk von Flora Schausberger, bei dem sie nicht als Sprecherin in Erscheinung tritt. Die Stimmen kommen von Constanze Winkler sowie aus O-Tönen.
„Es war manchmal bedrückend, einen Umgang mit der Geschichte dieses Ortes zu finden, der auch naivere Elemente erlaubt. Wenn man die Geschichte des Lagers erzählt, kann man nicht im nächsten Moment eine Leichtigkeit erzielen wie anderswo.“ Schausberger und Zischka erkundeten daher wieder und wieder die Gegend, nahmen Schritte und Umgebungsgeräusche auf und passten das Timing an. „35-mal sind wir den Weg sicher gegangen“, sagt Schausberger.
Das Publikum konnte bei Terminen im Herbst 2020 und im März 2021 Audiogeräte ausleihen. Zudem gab es an diesen Tagen die Möglichkeit, sich mit der in Wien lebenden Künstlerin und ihrem aus Graz stammenden Freund auszutauschen. Schon die Auseinandersetzung mit dem Medium „Audio-Walk“ war für viele neu. Manche hatten zuerst mit der Anpassung an das gemächliche Tempo zu tun. „Die Leute tendieren dazu, zu schnell zu gehen“, stellt Flora Schausberger fest. Andere sagten danach, sie hätten sich mehr Historie erwartet. Die Reaktionen waren freilich großteils sehr positiv.
Die Freiheit der Kunst
„Das Publikum war spannend für uns, gar nicht die typische Kunst- und Kulturklientel, viele ältere Leute, die nicht gewusst haben, was sie da erwartet“, sagt die Künstlerin. Da war etwa der Mann aus der Kasernstraße, der mit seiner Mutter die Kopfhörer teilte und mit ihr den Weg beschritt. Oder die Sozialarbeiterin, die erzählte, was vor Kurzem mit dem Haus eines alten Mannes passiert war.
Flora Schausberger hat gelernt, dass es noch mehr Zeit bräuchte, um mit der Bevölkerung vor Ort in intensiven Kontakt zu kommen. Und sie hat gemerkt, wie unterschiedlich die Erwartungen und Interessenlagen an ein Gebiet wie den Grünanger sind. „Kurz haben wir uns Sorgen gemacht, denn wenn es dem einen gefällt, stört es den anderen. Aber das Gute ist: Die Kunst bietet andere Freiheiten als etwa eine historische Stadtführung.“
Aus der monatelangen Beschäftigung mit diesem neuralgischen Punkt in der Stadt ergeben sich auf jeden Fall Konsequenzen für ihre nächsten Audio-Walks, aber auch Wünsche für das Leben im urbanen Raum: „Ich würde mir erhoffen, mehr mitbestimmen zu können, wie Häuser gebaut werden, wie sich die Stadt entwickelt. Wenn ein bestehendes Viertel grundlegend verändert werden soll, wäre es wichtig, dass die Bewohner*innen selbst mehr Mitspracherecht bekommen.“
Wer den Audio-Walk begehen will, braucht dazu nur einen MP3-Player oder ein Mobiltelefon samt Kopfhörern. Startpunkt ist bei der Endstation der Buslinie 34E (Theyergasse) am Gehsteig vor der Andersengasse 49. Die Tonspur und eine Karte können auf der Website heruntergeladen werden.