„Wir sind von der Frage ausgegangen, was die Zukunft bringen wird. Der Ansatz dabei war es, eine düstere Vision zu entwerfen, die den User*innen mit einer App in 360-Grad-Darstellung präsentiert wird. Zugleich aber wollten wir die Leute dazu animieren, die realen Orte aufzusuchen und zu erkennen, was es dort Positives gibt, das man konservieren könnte, ohne zu konservativ zu sein. Dabei wollten wir auch Stolpersteine schaffen, die zeigen, welche Entwicklungen es schon jetzt gibt, die man kritisch sehen sollte, etwa Überwachung, Datenmissbrauch oder klimaschädliches Verhalten.“
Georg Hartwig, von dem dieses Zitat stammt, versammelte für sein Projekt „Dystoptimal“ ein großes Team aus Programmierer*innen, Videospezialist*innen der Grazer Filmfirma Shot Shot Shot, Designer*innen, Musiker*innen wie Valgeir Sigurdsson, Produzent der isländischen Musikerin Björk, und Manu Mayr von der österreichischen Band 5K HD, dazu Architekt*innen und Studierende.
Eine der entscheidenden Fragen für die Kreation seiner digitalen dystopischen Stadt war die Wechselwirkung zwischen dem technisch Machbaren und den Geschichten, die in der App tatsächlich erzählt werden sollten. Für die Recherche besuchte Hartwig nicht nur alle Grazer Bezirke, sondern reiste auch nach Tokio, um dort urbanistische Einblicke in 360-Grad-Perspektive zu gewinnen. An 17 sehr unterschiedlichen Orten in der Stadt, vom Hauptplatz über den Weblinger Gürtel, die Andritzer Reichsstraße bis zur Terrassenhaussiedlung, kann man mit dem Smartphone düstere Szenen und Klänge mit Impressionen aus der Realität verbinden. Und das womöglich noch sehr lange. „Wenn es keine groben Änderungen in den App-Stores gibt, wird das ad infinitum nutzbar sein“, betont der Künstler.
Eine Voraussetzung ist allerdings, dass man sich zumindest in die Nähe der markierten Punkte begibt und damit die entsprechenden Szenen sozusagen freischaltet. Wie waren die bisherigen Reaktionen auf das ungewöhnliche Erlebnis? „Sehr gut, vor allem die Kleinigkeiten, die wir eingebaut haben, haben vielen gefallen. Dass im Mistkübel plötzlich etwas enthalten ist, das man dort nicht erwartet, dass selbst im Kanaldeckel eine Überraschung wartet.“ Besonders freut den Künstler, dass auch die Mitarbeiter des Straßenbauamtes, die für die Markierung der Orte zuständig waren, nach kurzer Skepsis Gefallen an der App fanden.
Ein virtuelles Volksfest
Mit viel Liebe zum Detail baute das Team Logos, Fake-Websites und andere interaktive Möglichkeiten in das düstere Geschehen ein. Ein rätselhaftes Unternehmen namens Nestlever tritt in Erscheinung. Am Hauptplatz findet ein Event namens „Hypersteirern“ statt samt passendem Bockbier-Musikvideo. „Wir haben eigentlich eine Parallelwelt aufgebaut, die mit der realen auf viele Art verbunden ist“, resümiert Georg Hartwig. „Dystoptimal“ ist dabei allerdings viel mehr als ein Spiel, es ist eine messerscharfe Analyse der Gegenwart mit Verweis auf die Folgen für die Zukunft. Von massiver Versiegelung und Desertifikation bis hin zu digitalen Überwachungsmethoden und „Social Credit“-Systemen wird manches thematisiert, was in Teilen der Welt für große Besorgnis Anlass bietet. Und so stellt Georg Hartwig auch fest, wie er selbst in einer Stadt der Zukunft leben will: „Mit mehr Begrünung und weniger Individualverkehr. Mit einer größeren Offenheit gegenüber allen Diversitäten, die es gibt. Eines der Grundprobleme: Wir sind faule Menschen, wir sind nicht bestrebt, Sachen zu hinterfragen, die uns angenehm erscheinen.“
Kleiner Tipp am Rande: Wer „Dystoptimal“ in der Terrassenhaussiedlung nutzen möchte, sollte dies am besten in der Dämmerung tun, um in den vollen Genuss der Visualisierung zu kommen. Ansonsten sind die Orte so ausgewählt, dass sie gut erreichbar sind und die Tageszeit keine Rolle spielt. Ein Ausstellungskatalog bietet zusätzlich analoge Eindrücke. Die App findet man am leichtesten über die Website des Projektes.