„Fast alle Entscheidungsprozesse, mit denen wir konfrontiert sind, werden heute automatisiert. Was für uns wichtig ist: Dass die dahinterliegenden Algorithmen sichtbar werden. Viele Menschen wissen gar nicht, wie für sie eine Auswahl getroffen wird. Jedes Produkt, das wir benutzen, wird optimiert. Da ist immer mehr Machine Learning integriert. Wir haben da noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht …“
Hanns Holger Rutz, von dem diese Aussage stammt, beschäftigt sich mit David Pirrò schon länger mit Algorithmen, sowohl durch Projekte an der Kunstuni Graz (KUG) als auch in Zusammenarbeit mit dem Master Module in Art, Science and Technology (MAST) an der TU Graz. Für das Kulturjahr wollten die beiden Experimente und Konzepte mit einer Ausstellung verbinden. Ein Netzwerk aus Forscher*innen und Künstler*innen beschäftigte sich in der Folge mit Fragmentierung und Segmentierung in der Gesellschaft, aber auch mit friedlicher und hierarchieloser Koexistenz in einer Stadt.
Es sollte nicht eine große Arbeit, ein einzelnes Statement entstehen, sondern eine Pluralität von Werken, ein Parcours. Die Teile der Gesamtschau fanden mal zur selben Zeit, mal überlappend statt, erzählt Rutz. Die Installationen beruhen dabei auf längeren Auseinandersetzungen mit dem Thema, reagieren aber unmittelbar auf die konkrete Örtlichkeit. Jonathan Reus etwa lässt an der Fassade des Forum Stadtpark den Komponisten Morton Feldman mit dem Schriftsteller Samuel Beckett in einen fiktiven Dialog treten. Dabei werden zwei Sprachsynthesizer mit künstlicher Intelligenz trainiert, um die Stimmen und Gedanken zu imitieren.
Die Raum-Klang-Installation „Ein|sickerung“ im esc medien kunst labor befasst sich mit Austauschprozessen. Signale, diverse Materialien, Licht und Klänge verschmelzen zu einem Raumkörper. „Schreiben (simultan)“ von Hanns Holger Rutz im Reagenz, Raum für künstlerische Experimente, widmet sich einem automatisierten Schreibprozess. Ein Computer überschreibt in endlosen Schleifen einen „Klangstrom“. „Durchlässige Segmente“ dockt mit Klängen an der Stiege des Kunsthauses an. Vier Künstler*innen lauschen mit Computeralgorithmen in das Innere des Hauses, verschaffen sich akustische Eindrücke von den Bewegungen der Besucher*innen und reagieren darauf. Mit einem ausführlichen Video, das auf der Projektseite zu sehen ist, kann gut nachvollzogen werden, wie die Arbeiten entstanden.
Wir überschreiben die Soundkulisse
Wichtig ist bei der Beschäftigung mit Algorithmen, sagt Rutz, dass man den Entstehungsprozess als zentralen Teil der Arbeit begreift. Und eines ist ihm auch wichtig: „Der digitale Raum ersetzt nicht einfach den analogen. Vielmehr sind beide komplementär.“ Das Phänomen des Überschreibens, das im Projekt thematisiert wird, ist heute vielfach in der Öffentlichkeit zu erleben – etwa auf der Audioebene. Menschen blenden reale Geräusche mit ihren Kopfhörern aus, ersetzen sie durch Musik. Kein Wunder, sagt Rutz, denn die Geräuschkulisse von Graz besteht hauptsächlich aus Autolärm. Wenngleich Graz eine sehr lebenswerte Stadt ist, hofft er, „dass man sich nicht allein auf Tourismusfaktoren fokussiert, sondern an die Menschen denkt, die hier leben. So sind auch nicht-kommerzielle Kunsträume, wie wir sie bespielt haben, auf keinen Fall zu unterschätzen.“
Während Kritiker*innen die Dominanz der Algorithmen beklagen, sieht Rutz auch hier das Positive: „Was mich darin bestärkt, dass wir noch eine Weile existieren werden, ist die menschliche Fähigkeit zur Anpassung. Wir sind lernfähig und in der Lage, zusammenzuarbeiten. Angesichts der Klimasituation stehen wir vor großen Herausforderungen, aber ich bin optimistisch, dass wir auch das gemeinsam hinbekommen.“